Im Juni 1953 feierte das Gymnasium in Borken, das von 1937 bis 1949 „Oberschule für Jungen und Mädchen“ gewesen war, aus zwei Gründen: Zum einen erreichte der kommissarische Schulleiter Studienrat Dr. theol. Engelbert Niebecker1 die Umbenennung des 1949 wiederhergestellten Gymnasiums in „Städt. Gymnasium Remigianum“ im Februar 1953, zum anderen setzte er sich mit Nachdruck für ein festliches Jubiläum „500 Jahre Lateinschule Borken“ ein, wozu ihm nicht zuletzt Urkunden aus den Jahren 1414 bis 1424 als Begründung dienten. Bei dieser Gelegenheit erhielt er auch die Ernennungsurkunde zum Oberstudiendirektor am Gymnasium Remigianum.
Trotz seines großen Engagements im Bereich der Bildung – bereits Ende 1946 gründete er den „Katholischen Kulturring“, seit Ende 1952 „Kath. Vortragswerk“ genannt2 – stellte er sich im Zusammenhang der Entnazifizierung schützend vor (fast) alle seine Kollegen. Was Niebecker nicht bewirken konnte und wahrscheinlich auch nicht wollte, war eine aktive Auseinandersetzung mit dem besiegten, aber nicht aufgearbeiteten Nationalsozialismus. Dass er selbst in vielerlei Hinsicht, und zwar vor allem als Lehrer und Beamter, Teil des Systems geworden war und sich nur mühsam gegen die ideologischen Zumutungen wehren konnte, dürfte ihn auch nach 1945 immer wieder beschäftigt haben. Er wird aber mit mehreren Kollegen die Meinung geteilt haben, dass das Gymnasium im Großen und Ganzen (innerlich) unbeschädigt aus der Diktatur und dem Krieg herausgekommen sei.
Ob vielleicht der Oberprimaner Josef Ruppert das Vermächtnis seines Schulleiters bereits 1953 auf den Punkt gebracht hatte? Ruppert stellte unter dem Titel „Neue Formen – Erziehung aus dem Geiste der Schülermitverantwortung“auf zwei Seiten in der Jubiläums-Festschrift die Situation der Schülerschaft nach 1945 dar, die der Erinnerung wert erscheinen:
„Fünfhundert Jahre höhere Lehr- und Bildungsanstalt zu Borken! Mit diesem Jubelfeste ist für uns, die wir miterleben und mitgestalten dürfen, eine tiefe Aussage verbunden. Keineswegs ist es nur die äußere Tatsache, dass da auf Borkens Boden eine fünfhundert Jahre alte Schule steht, sondern es sit eine Aussage, die letztlich etwas wiedergibt von der großen Triebkraft, die das hohe Alter unserer Schule [wirklich] werden ließ. Wie mag es diese Anstalt fertig gebracht haben, die Verschiedenartigkeit und die Wandlungsfähigkeit der Zeiten zu durchleben? Doch nur dadurch, dass sie die Zeiten verstand und ihre wechselnden Forderungen zu erfüllen vermochte.
Eine Anstalt muß unsere Schule in Borken gewesen sein – und das ist es, was wir an ihr auch heute noch lieben – ewig jung und immer aufgeschlossen, das Gute aufzunehmen und weiterzutragen.
Das Mühen und das richtige Verstehen und das Streben nach ‚unserer Form‘, nach der Formung aus unserer Zeit, zeichnet die alte Borkener Schule auch heute noch aus.
Unsere Zeit hat Dinge erlebt, die verglichen mit dem Geschehen der ferneren Vergangenheit weit über das allgemeine Maß hinausgehen. Der heutige Mensch hat Erschütterungen erlebt, und die Vernichtung und der Tod standen vor ihm in zermürbender Wirklichkeit. Wir haben ein Jahr 1945 durchgestanden! – Die Ernte, die wir machten, war es, die das Nachdenken über die Saat von uns erzwang. Die Erkenntnis aber, die aus diesem Nachdenken wurde, barg in sich Verpflichtung!
Wir fragten nach den Gründen des völligen Zusammenbruches. Die Antwort darauf wird von vielen gegeben, von der Jugend wie von den Alten: Die Gründe liegen – sicherlich nicht allein – aber sie liegen mit im Versagen der Jugend infolge unrichtiger Erziehung. Und der Teil jener Verpflichtungen, die auf uns junge Menschen kamen, liegt darin, Gegenbewegung zu schaffen gegen die Erziehungsperiode, die Führertum und Gefolgschaftstreue über ihren wirklichen Wert hinaus steigerte. Und wie das geschieht, beantworten wir so: »Die Verpflichtung des Einzelnen muß geweckt, seine Mitverantwortung gegenüber der Gemeinschaft und dem Ganzen muß eine Realität werden!«
Aus dieser Erkenntnis hat die Jugend der höheren Schulen sich zusammengeschlossen in der Schülermitverantwortung; denn sie weiß, daß die neue Idee Phrase bleiben müßte, solange sie des handelnden Menschen, des einsatzbereiten, entbehrt.
Das dürfen wir mit Stolz sagen: Unser Gymnasium Remigianum gehört in die Reihe der Schulen, die schon vor Jahren den neuen Gedanken der Schülermitverantwortung als erste aufgenommen haben und ihn als ihr Ideal in die Zukunft tragen wollen. Wir haben es in unserer Schule erkannt, daß das Bewußtsein von uns gefordert wird, daß wir später im öffentlichen Leben stehen werden und folglich jetzt schon ja sagen müssen zu einer mitverantwortlichen Selbständigkeit. Nach diesem Bewußtwerden der Aufgaben – heute und morgen – streben wir, und [darin] sehen wir die Aufgabe unserer Schülermitverantwortung, den Schülertyp mit- und selbstzuerziehen, der weiß, daß es »auf ihn« ankommt, auf jeden einzelnen.
Es ist hier nicht der Platz, die Mannigfaltigkeit der Arbeitsmöglichkeiten der Schülermitverantwortung aufzuzählen. Das eine jedoch, Möglichkeiten zu mitverantwortlichem Selbsttätigsein bietet das Leben der Schule, bietet die Gemeinschaft in reichem Maße. Wir greifen diese Möglichkeiten auf mit dem Schwung und der Begeisterung der Jugend, wir stellen mit ihnen die Nützlichkeit unseres Strebens unter Beweis. Das Wirken der Schülermitverantwortung geschieht in Aufgeschlossenheit und geht weithin, die Aufgaben sind groß – und so suchen wir sie: so groß, dass sie der Größe des Gedankens angepaßt sind; diese Größe des Gedankens ist es, die das kleinliche, spießbürgerliche Streben ausschaltet. Schülergewerkschaft, Kampftruppe gegen Ordnung der Schule? Eine jämmerliche Auffassung, die nur leben kann in Köpfen, die im Grunde nicht wissen um den wirklichen Sinn und deshalb Sinn in Unsinn und Entartung suchen.[…]“3
So viel aus der Rückschau auf 1933 und das NS-System gewonnene Klarheit hätte man sich – zumindest aus heutiger Sicht – auch von Dr. Engelbert Niebecker gewünscht. Allerdings muss er die Bedeutung demokratischer Neuordnung schließlich doch akzeptiert haben: Den Beitrag des Abiturienten Ruppert zur Festschrift überschreibt er mit „Neue Formen“, eine Formulierung, die gewiss die politische Absage an die NS-Zeit immer noch zu verschleiern sucht.
Aber auch der Schüler bleibt nicht nur sprachlich seiner eigenen Geschichte verhaftet, wenn er so allgemein wie hier die Anpassung an neue Zeiten proklamiert und Anpassungsfähigkeit als Voraussetzung für das Überdauern der Institution Schule beschreibt.
Bruno Fritsch, 01/2025
1 Engelbert Niebecker, geboren 1895 in Arnsberg als Sohn eines Postbeamten, kam im Oktober 1929 als Studienrat an das Gymnasium i.E. in Borken/Westfalen. Im Dezember 1920 wurde er in Münster zum Priester geweiht. 1936 promovierte er zum Dr. theol. Ende 1946 wurde Dr. Alex Hermandung, Oberstudiendirektor in Borken, aus gesundheitlichen Gründen pensioniert und der bisherige stellvertretende Schulleiter Bartholomäus Sommer ging auf eigenen Wunsch zurück nach Bocholt. Da ergriff Niebecker die Gelegenheit, sich als „stellvertretender Schulleiter“ des verwaisten Gymnasiums zu bewerben, worauf er am 10. Januar 1947 mit diesem Amt betraut wurde. Vgl. dazu die Monografie des Verfassers: Engelbert Niebecker (1895-1955). Fliegerleutnant, katholischer Geistlicher und Gymnasialdirektor in Borken, Bielefeld 2015.
2 Ebenda, S. 248-252.
3 Josef Ruppert: Erziehung aus dem Geiste der Schülermitverantwortung. In: 500 Jahre Lateinschule. Festschrift zum Jubiläum des Städtischen Gymnasiums Remigianum zu Borken i. Westf. am 15. Juni 1953. Herausgegeben im Jahre 1953. Hg. Städtisches Gymnasium Remigianum Borken [Dr. Engelbert Niebecker] , S. 45f. – Im Text stehen die beiden Korrekturen aus den „Berichtigungen und Nachträgen zur Festschrift des Gymnasium Remigianum“ in […]. (maschinenschr.).
letzte Bearbeitung: 17.01.2025